Zusammenfassungen
Lehrer*innenprofessionalität im Kontext islamischer Religionspädagogik
Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz
Am 16.04.2024 fand am Institut für Islamisch-Theologische Studien ein wichtiger Vortrag von Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz zum Thema Lehrer*innenprofessionalität im Kontext der islamischen Religionspädagogik statt. Der Vortrag war Teil der Online-Vortragsreihe zu aktuellen Fragen der Islamischen Theologie und Religionspädagogik. Der Vortrag wurde von Dr. Şenol Yağdı PhD moderiert.
Prof. Kamcili-Yildiz ging ausführlich auf die Herausforderungen und Entwicklungen seit der Einführung des Studiums der Islamischen Theologie bzw. Religionspädagogik an deutschen Universitäten ein, eine Initiative, die seit 2010 durch Empfehlungen des Wissenschaftsrates vorangetrieben wurde. Diese Initiative hat maßgeblich zur Professionalisierung des Berufsstandes der islamischen Religionslehrer*innen beigetragen.
Ein zentraler Aspekt ihres Vortrags war die Unterscheidung verschiedener Typen von Religionslehrkräften, die im Islamischen Religionsunterricht (IRU) tätig sind:
- Islamische Religionslehrkraft: Lehrkraft, die den Islam unabhängig von ihrer eigenen religiösen Identität unterrichtet.
- Muslimische Religionslehrkraft: Lehrkraft, die selbst dem Islam angehört und diesen unterrichtet.
- Islamischer Religionslehrer*in: Lehrkraft, sowohl muslimisch als auch nicht muslimisch, die sowohl religionskundlichen als auch bekenntnisorientierten Religionsunterricht erteilt.
Islamischer Religionsunterricht (IRU) wird in Deutschland vor allem in zwei Modellen angeboten:
- Bekenntnisorientierter islamischer Religionsunterricht: Dieser Unterricht wird von anerkannten islamischen Religionsgemeinschaften verantwortet und ist vergleichbar mit dem katholischen oder evangelischen Religionsunterricht. Er wird in einigen Bundesländern (in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen [nur Ahmadiyya], Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland als Modellversuch) als ordentliches Lehrfach erteilt.
- Islamkunde: Ein bekenntnisneutraler Unterricht in staatlicher Verantwortung, der überwiegend informierenden Charakter ohne religiöse Erziehungsabsicht hat (vorhanden in Bayern, Schleswig-Holstein, Hessen; nicht vorhanden in Berlin, Brandenburg, Bremen [bekenntnisübergreifender Unterricht], Hamburg [bekenntnisübergreifender Unterricht], Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen).
Die Einführung und Ausgestaltung dieser Unterrichtsformen hängen stark von den rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen in den einzelnen Bundesländern ab. Besonders hervorzuheben ist die je nach Bundesland unterschiedliche Beteiligung und Trägerschaft islamischer Organisationen, die zu einer Vielfalt in der Durchführung und Qualität des Unterrichts führt. Diese Kategorisierung ist entscheidend, um die spezifischen Qualifikationsanforderungen und die pädagogische Ausrichtung des Unterrichts zu verstehen.
Darüber hinaus sprach Prof. Kamcili-Yildiz verschiedene Herausforderungen an:
- Fehlende Unterrichtsmaterialien und unqualifizierte Lehrkräfte, die nicht angemessen auf ihre Rolle im IRU vorbereitet sind.
- Strukturelle Hindernisse, wie Verzögerungen und Blockaden seitens der Schulleitung oder des Kollegiums, die die Einführung und Ausweitung des IRU erschweren.
- Vorurteile und institutionelle Widerstände, darunter rassistische Vorurteile und die Angst vor einem schlechten Ruf der Schule, die zu Anfeindungen führen und islamische Religionslehrer*innen häufig in die Rolle des "Schiedsrichters" in Konflikten drängen.
Auf der Makroebene betonte die Professorin die Notwendigkeit, die Forschung zur Professionalität islamischer Religionslehrkräfte stärker an erziehungswissenschaftlichen Ansätzen zu orientieren und die Diskurse über Ausbildungswege sowie strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen zu erweitern. Auf der Mikroebene sollte das Unterrichtshandeln kompetenzorientiert erschlossen werden, unterstützt durch eine systematische Erforschung von Lehr- und Lernprozessen.
Die Diskussionen und Ergebnisse des Vortrags verdeutlichen die Dringlichkeit, die Professionalität islamischer Religionslehrkräfte durch verbesserte Ausbildungswege, qualifizierte Lehrmaterialien und unterstützende Strukturen zu fördern, um einen effektiven und inklusiven Islamischen Religionsunterricht zu gewährleisten.
Wir danken Frau Prof. Kamcili-Yildiz für ihre profunden Einblicke und allen Teilnehmenden für ihre engagierte Mitarbeit.
Islamisch-theologische Überlegungen zur Ambiguität und Ambiguitätstoleranz aus religionspädagogischer Perspektive
Apl. Prof. Dr. Jörg Imran Schröter
Am 23. April 2024 leistete Apl. Prof. Dr. Jörg Imran Schröter einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Ambiguität in der islamischen Theologie und deren pädagogische Implikationen. Der von Dr. Şenol Yağdı PhD moderierte Vortrag, der Teil einer fortlaufenden Online-Vortragsreihe an der Universität Wien ist, zog zahlreiche Teilnehmer*innen aus dem akademischen und pädagogischen Bereich an.
Prof. Schröter sprach über die Herausforderungen und die Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz im islamischen Kontext. Er beschrieb diese Toleranz als eine wesentliche "Kultur der Ambiguität", die in der islamischen Theologie zunehmend an Bedeutung gewinne. In seinem Vortrag betonte er, wie wichtig es sei, Mehrdeutigkeiten zu akzeptieren und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Er beleuchtete pädagogische Strategien, die helfen, mit Heterogenität umzugehen, multiperspektivisch zu denken und Orientierung in scheinbarer Orientierungslosigkeit zu bieten.
Das Thema "Ambiguitätstoleranz", geprägt durch den Islamwissenschaftler Thomas Bauer, löste eine lebhafte Fachdiskussion aus. Prof. Schröter zeigte auf, wie Bauers Konzept in der modernen islamischen Theologie und Religionspädagogik zunehmend Beachtung findet. Bauer betonte, dass eine historisch verankerte Ambiguitätstoleranz in vielen muslimischen Kulturen unter den gegenwärtigen globalen Einflüssen abnehme. Diese Perspektive ermöglichte den Teilnehmenden einen tieferen Einblick in die historischen und kulturellen Dimensionen von Ambiguität im Islam und unterstrich die Notwendigkeit, diese in pädagogischen Ansätzen zu stärken. Wichtige pädagogische Ansätze wie der Mut zum Fragen und die Notwendigkeit einer klaren Positionierung wurden hervorgehoben. Prof. Schröter zog Parallelen zur islamischen Gelehrsamkeit und betonte, dass der Umgang mit Ambiguität auch als Adab vor Gott und als Demut vor dem Anderen verstanden wird.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, wie wichtig es ist, dass Schüler*innen in schulischen Texten Kontingenzerfahrungen machen und lernen, Unterschiede und Differenzen auszuhalten. Darüber hinaus hat Prof. Schröter darauf hingewiesen, dass auch in der Frömmigkeit Raum für alternative Deutungen sein muss. Diese Themen stellen uns vor große Herausforderungen. Mehr Verständnis und hermeneutische Sensibilität sind gefragt, gerade in einer Zeit, in der einseitige Narrative immer mehr Raum gewinnen. Die Wiederherstellung und Förderung der Ambiguitätstoleranz ist daher von großer Bedeutung. Der Vortragende betonte auch die Bedeutung des interreligiösen Dialogs, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit Wahrheitsansprüchen. Es ist wichtig, dass wir bei der Behauptung von Wahrheiten auch eine selbstkritische Haltung einnehmen. Dies ist ein wesentlicher Schritt zur Förderung und Einübung von Ambiguitätstoleranz und trägt dazu bei, Unterschiede und alternative Interpretationen besser aushalten und verstehen zu können. Seine Betonung dieser Aspekte unterstreicht die Notwendigkeit, unsere eigenen Perspektiven immer wieder zu hinterfragen und offen für andere Sichtweisen zu bleiben.
Wir danken Prof. Jörg Imran Schröter für seine konstruktiven Einblicke und allen Teilnehmenden für ihre engagierte Teilnahme an der Diskussion. Der Vortrag hat nicht nur theoretische Erkenntnisse geliefert, sondern auch praktische Perspektiven eröffnet, die für die islamische Theologie und Religionspädagogik von großer Bedeutung sind. Der rege Gedankenaustausch und das große Engagement aller Beteiligten trugen wesentlich zum Gelingen der Veranstaltung bei.
Ambiguität und Vielfalt im islamischen Recht
Prof. Dr. iur. Çefli Ademi
Am 07.05.2024 hielt Prof. Dr. Çefli Ademi am Institut für Islamisch-Theologische Studien einen wichtigen Vortrag über Ambiguität und Vielfalt im islamischen Recht. Der Vortrag war Teil der Online-Vortragsreihe zu aktuellen Fragen der Islamischen Theologie und Religionspädagogik und wurde von Dr. Şenol Yağdı PhD moderiert.
Prof. Ademi ging auf die zentrale Rolle der Ambiguitätstoleranz in der islamischen Rechtswissenschaft ein. Er erklärte, dass die Vielfalt rechtlicher Interpretationen und Sichtweisen im Islam historisch tief verwurzelt sei und dass diese Vielfalt die Grundlage für die Entwicklung einer dynamischen und anpassungsfähigen islamischen Rechtskultur bilde. Er betonte, dass das islamische Rechtssystem keinen Anspruch auf absolute Wahrheiten erhebe, sondern auf der Grundlage des Ijtihad - der höchsten Bemühung um Auslegung - funktioniere. Dies mache die Rechtswissenschaft im Islam zu einer Disziplin, die auf Wahrscheinlichkeiten und nicht auf Gewissheiten beruhe.
In seinem Vortrag betonte Prof. Ademi die Bedeutung der methodologischen Reflexion innerhalb der islamischen Rechtswissenschaft und die Notwendigkeit, die Vielfalt der Interpretationen als Ausdruck einer reichen Gelehrsamkeit zu verstehen. Er diskutierte, wie diese Vielfalt nicht nur die Komplexität der islamischen Rechtslehre unterstreicht, sondern auch die Notwendigkeit, diese Komplexität in modernen Kontexten zu bewahren und zu fördern.
Prof. Ademi zeigte auf, dass die islamische Gelehrsamkeit auf einer ununterbrochenen Kette von Überlieferungen beruht, die bis zu den Gefährten des Propheten Muhammad (saws) zurückreicht. Diese Kette garantiert die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Lehren und unterstreicht die Rolle von Glaubwürdigkeit und Plausibilität in der Überlieferung und Interpretation des islamischen Rechts.
Zusammenfassend stellte Prof. Ademi fest, dass Ambiguität im islamischen Recht kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sei. Diese Perspektive ist besonders relevant in einer Zeit, in der einseitige und vereinfachende Interpretationen immer mehr um sich greifen. Der Vortrag gab wertvolle Einblicke in die Mechanismen der islamischen Rechtswissenschaft und unterstrich die Bedeutung einer offenen und differenzierten Herangehensweise an Rechtsfragen.
Der Vortrag von Prof. Ademi war nicht nur ein wichtiger Beitrag zur islamischen Rechtswissenschaft, sondern auch eine wertvolle Ressource für alle, die sich mit der Dynamik und Komplexität des islamischen Rechts in einer sich verändernden Welt auseinandersetzen wollen.
Religionspädagogische Perspektiven zu Fremdheitserfahrungen und Othering
Dr. Janosch Freuding
Am 14.05.2024 referierte Dr. Janosch Freuding von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am Institut für Islamisch-Theologische Studien zum Thema "Fremdheitserfahrungen und Othering in religiöser Bildung". Der Vortrag wurde im Rahmen der Online-Vortragsreihe zu aktuellen Fragen der Religionspädagogik gehalten und von Dr. Şenol Yağdı moderiert.
Dr. Freuding hob hervor, dass die Sensibilisierung für Othering-Prozesse eine zentrale Bildungsaufgabe darstellt. Er führte aus, dass gesellschaftliche Ausgrenzungsstrukturen eine permanente Bedrohung für das Zusammenleben darstellen und dass das Ziel darin bestehen sollte, Anerkennung für die*den jeweils Andere*n zu schaffen und Rahmenbedingungen für gelingende persönliche Begegnungen zu ermöglichen.
Ein zentraler Aspekt des Vortrags war die Erläuterung von Fremdheit als einer relativen Kategorie. Dr. Freuding erläuterte, dass die Wahrnehmung von Fremdheit stets von subjektiven Blickwinkeln und spezifischen Kontexten abhängt. Anhand verschiedener Unterrichtssituationen veranschaulichte er, wie Fremdheitserfahrungen im schulischen Kontext auftreten und wie Schüler*innen darauf reagieren. Es wurden verschiedene Subjektpositionen auf das Thema "Fremdheit" eingeführt, darunter die Erfahrung als "Objekt" einer Fremdzuschreibung sowie die Ordnungsirritation durch etwas Außerordentliches. Diese Perspektiven verdeutlichen, wie unterschiedlich Fremdheit erfahren und konstruiert werden kann.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Vorstellung von Strategien gegen Othering. Der Referent unterstrich die Relevanz, Stereotype zu irritieren, anstatt sie zu reproduzieren, und mehrperspektivische, individuenbezogene Zugänge zu wählen. Er betonte, dass es essenziell sei, Schuldzuweisungen zu vermeiden und stattdessen auf das Unrecht hinzuweisen, das mit ausgrenzenden Fremdzuschreibungen verbunden ist.
Im Verlauf des Vortrags wurde ersichtlich, dass Fremdheitserfahrungen nicht lediglich auf einer explizit-kognitiven Ebene thematisiert werden sollten, sondern auch implizit-emotionale Reaktionen Berücksichtigung finden müssen. Dr. Freuding unterstrich die Relevanz der Selbstreflexion der Lehrkraft hinsichtlich ihrer eigenen Deutungsmuster sowie die Notwendigkeit der Reflexion von Wissensstrukturen, die zu Ausgrenzung führen können. Der Vortrag verdeutlichte die Komplexität von Fremdheitserfahrungen sowie die Notwendigkeit, diese im Kontext religiöser Bildung kritisch zu reflektieren und zu dekonstruieren. Die Diskussionen und Ergebnisse des Vortrags unterstreichen die Dringlichkeit, Sensibilisierungsprozesse in der Bildungsarbeit zu fördern, um ein inklusives und respektvolles Miteinander zu gewährleisten.
Wir danken Herrn Dr. Janosch Freuding für seine tiefgründigen Einblicke sowie allen Teilnehmenden für ihre engagierte Mitarbeit.
Religionspädagogische Perspektiven zu Framing und Ideologiekritik im Religionsunterricht
Mag. Andreas Menne, MA
Am 29.05.2024 hielt Mag. Andreas Menne, MA von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz am Institut für Islamisch-Theologische Studien einen Vortrag zum Thema "Religionspädagogische Perspektiven zu Framing und Ideologiekritik im Religionsunterricht". Der Vortrag fand im Rahmen der Online-Vortragsreihe zu aktuellen Fragen der islamischen Theologie und Religionspädagogik statt und wurde von Dr. Şenol Yağdı moderiert.
Mag. Menne, MA erörterte die Bedeutung von Ideologiekritik im Kontext religiöser Bildung, die seit den gesellschaftlichen Umbrüchen um 1968 als wichtiger Aspekt der Religionspädagogik gilt. Wie Ideologiekritik als religionsdidaktisches Lernprinzip neu konzipiert werden kann, zeigte er anhand der Methode der Framing-Analyse, mit der mediale Diskurse über Religion, wie z.B. die Kopftuchdebatte, ideologiekritisch untersucht werden können.
Ein Schwerpunkt des Vortrags lag auf der Darstellung, wie Framing in öffentlichen Debatten eingesetzt wird, um bestimmte Sichtweisen zu verstärken und andere zu minimieren, wodurch die Komplexität der Realität oft reduziert wird. Menne betonte, dass im Religionsunterricht durch die Analyse von Framing-Prozessen ein kritisches Verständnis für die Konstruktion von Wirklichkeit gefördert werden sollte. Als Beispiel nannte er unter anderem die Kopftuchdebatte, in der verschiedene mediale Frames die Wahrnehmung stark beeinflussen und oft zu polarisierten Sichtweisen führen.
Der Vortrag betonte, dass der Religionsunterricht eine Plattform bieten sollte, um Schüler*innen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ideologisch aufgeladenen Themen anzuleiten. Durch das Verstehen und die kritische Analyse von Frames können Lernende befähigt werden, mediale Darstellungen kritisch zu hinterfragen und eigene, fundierte Meinungen zu entwickeln.
Der Referent betonte abschließend die Notwendigkeit, Ideologiekritik im religionspädagogischen Diskurs weiterhin zu berücksichtigen und weiterzuentwickeln. Er regte an, dass Lehrer*innen die Methoden der Ideologiekritik und des Framing aktiv in den Unterricht einbringen sollten, um den Schüler*innen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie die vielschichtigen und oft verborgenen Einflüsse in öffentlichen Debatten erkennen und verstehen können.
Wir danken Herrn Mag. Andreas Menne, MA für seine profunden Einblicke und allen Teilnehmenden für ihre engagierte Mitarbeit.
Diskurssensible Religionspädagogik
HS Prof. Dr. Bettina Brandstetter
Am 4. Juni 2024 hielt HS Prof. Dr. Bettina Brandstetter von der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz am Institut für Islamisch-Theologische Studien einen Vortrag zum Thema "Machtvolle Differenzierungen und binäre Kodierungen – Perspektiven einer diskurssensiblen Religionspädagogik". Der Vortrag wurde im Rahmen der Online-Vortragsreihe zu aktuellen Fragen der Islamischen Theologie und Religionspädagogik gehalten und von Dr. Şenol Yağdı moderiert.
Die Referentin erörterte, wie Menschen über Differenzierungen und binäre Kodierungen zu "Anderen" gemacht werden und wie man mittels Diskurssensibilität auf solche machtvollen Differenzierungspraktiken aufmerksam werden kann.
Am Fallbeispiel "(K)eine Stimme für Hülya" (http://doi.org/10.25364/10.31:2023.1.6) verdeutlichte sie, wie Sprache, Milieu, Kultur, Migrationserfahrung und Religion zu einem machtvollen Diskurs verflochten werden, der sich für die betroffene Schülerin bildungsbenachteiligend auswirkt. Im benannten Beispiel wird Hülyas familiärer Kontext dafür verantwortlich gemacht, dass die Schülerin im Gymnasium scheitert, während schulische Mängel und fehlende staatliche Unterstützungsmaßnahmen zu wenig Beachtung finden. Religion dient dabei als "soziale Differenzkategorie", sie scheint Hülya und ihre Familie essentiell von der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden. Diese Reduktion der komplexen Situation vereinfacht die Argumentation und Schuldzuweisung: die religiöse Zugehörigkeit und damit verbundene, vermeintliche Identitätsvorstellungen der Familie erscheinen letztlich als der eigentliche Verhinderungsgrund für den gesellschaftlichen Aufstieg der Schülerin.
Brandstetter illustrierte, wie mittels diskurssensibler Heuristik mediale Diskurse über Religion, Migration oder natio-ethno-kulturelle Zuschreibungen dekonstruiert werden können. Sie plädierte dafür, nicht nur auf die Identitätspolitik der anderen zu schauen, sondern auch die eigene Produktion von Unterschieden unter die Lupe zu nehmen: Wie präsentieren wir andere Religionen und Weltanschauungen im islamischen Religionsunterricht? Wie gehen wir mit der Pluralität innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft um? Wie verhandeln wir die Geschlechtervielfalt, verschiedene Milieus oder prekäre Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen? Es ist immer hilfreich, viele Perspektiven ins Spiel zu bringen, weil sie der Komplexität der Wirklichkeit eher gerecht werden, als machtvolle Reduktionen.
Insbesondere bei interreligiösen Initiativen ist es wichtig, die Dichotomie zwischen "Wir Muslim*innen" und "Ihr Christ*innen" aufzubrechen und sich über verbindende Themen der gemeinsamen Verantwortung in Gesellschaft und Welt zu stellen. Binäre Identitäten, die Opfer und Täter*innen ausmachen, helfen dabei nicht weiter. Vielmehr befördern sie rechtspopulistisches Gedankengut und islamistische Verschwörungen. Diskriminierung und Rassismus sind ein strukturelles Problem, das strukturelle Lösungen verlangt, nicht identitäre.
Religionen sind stets vielfältig und facettenreich. Sie bilden sich in der Kommunikation mit anderen Religionen und Weltanschauungen heraus, indem sie Inklusionen und Exklusionen vornehmen. Religionen sind also von ihrer Entstehungsgeschichte jeher schon auf einander verwiesen und bedingen sich wechselseitig. Religionen sind aber auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft von hoher Pluralität charakterisiert und werden familienkulturell unterschiedlich praktiziert. Dabei kann die individuelle Nähe oder Distanz zur Religion eine sehr hohe Breite aufweisen. Um allen Schüler*innen Identifikationsmöglichkeiten anzubieten, ist es sinnvoll, von einer Pluralität an religiösen Vorstellungen und Praktiken auszugehen und diese nicht zu bewerten.
Religionen sind mit Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen verknüpft, weshalb sie einen wesentlichen Beitrag zur (Selbst-)Ermächtigung leisten können. Machtvolle Differenzierungen und reduktionistische Kollektivierungen helfen daher nicht weiter. Vielmehr sollten wir die jeweiligen Schüler*innen und ihre je konkrete Lebens- und Erfahrungswelt im Blick behalten. Zugleich gilt es, sie zur solidarischen Verantwortungsübernahme in unserer Gesellschaft zu ermutigen.
Der Vortrag postulierte, dass der Religionsunterricht eine Plattform bieten sollte, um Schüler*innen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Differenzierungen und binären Kodierungen anzuleiten. Durch das Verstehen und die kritische Analyse dieser Prozesse wird eine Grundlage geschaffen, auf der Lernende mediale Darstellungen kritisch analysieren, eigene Selbstverständlichkeiten und Normalitätsvorstellungen hinterfragen und selbständige, fundierte Meinungen entwickeln können.
Wir möchten Frau HS Prof. Dr. Bettina Brandstetter unseren herzlichen Dank für ihre tiefgehenden Einblicke aussprechen und uns bei allen Teilnehmenden für ihre engagierte Mitwirkung bedanken.
Identitätskonstruktionen in der digitalisierten Postmoderne
Prof. Dr. Erol Yildiz
Am 18. Juni 2024 hielt Univ.-Prof. Dr. Erol Yildiz von der Universität Innsbruck einen Vortrag zum Thema „Identitätskonstruktionen in der digitalisierten Postmoderne“ im Rahmen der Online-Vortragsreihe des Instituts für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien. Der Vortrag wurde von Dr. Şenol Yağdı moderiert.
Prof. Yildiz begann mit der Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben. Er stellte verschiedene Perspektiven vor, darunter die digitalisierte Mediengesellschaft, die multikulturelle Gesellschaft und die kapitalistische Gesellschaft. Besonderes Augenmerk legte er auf die Postmoderne und die postmoderne Moderne und wie Identitätskonstruktionen in diesen Kontexten analysiert werden.
Er erklärte, dass die Art und Weise, wie wir Identitäten betrachten, stark von unseren sozialen Perspektiven abhängt. Als Beispiel nannte er das Spiel von Kindern, die ihre eigenen Regeln und Welten schaffen, was eine Form von Demokratie darstelle. Diese Sichtweise kontrastierte er mit dem gängigen Differenzdenken, das Kinder in Kategorien wie „einheimisch“ oder „ausländisch“ einteile.
Yildiz beschrieb die postmoderne Gesellschaft als eine Gesellschaft mit egalitären Strukturen und kultureller Demokratisierung. Er betonte, dass Identitäten heute von globalen und digitalen Transformationen geprägt seien. Dabei ging er auf verschiedene differenzierte Perspektiven ein, wie die Synthese des Heterogenen, narrative Identität, situative Identität, soziale, personale und Ich-Identität, Bastelidentität, Identitätsspiele und Selbstpraktiken, Identität als selbstreflexives Projekt und Öffnung des Welthorizonts, hybride Identität sowie die Herstellung und Darstellung von Identität.
Der Vortrag setzte sich fort mit einer detaillierten Betrachtung der Identität im 21. Yildiz untersuchte, wie sich Identitäten in einem globalisierten und digitalisierten Kontext entwickeln und wie verschiedene kulturelle und religiöse Einflüsse diese Identitäten formen. Dabei betonte er, wie wichtig es sei, andere Geschichten zu erzählen, andere Bilder sichtbar zu machen, das Getrennte zusammenzudenken und das Ungesagte, Unsichtbare und Marginalisierte ans Licht zu bringen.
Ein Schwerpunkt des Vortrags war die Vielfalt religiöser Lebensentwürfe in der heutigen Zeit. Prof. Yildiz zeigte auf, wie sich Religionen und religiöse Praktiken durch Globalisierung und Digitalisierung verändern. Er stellte verschiedene Typen von Religiosität vor, von hochreligiös bis religionsfern.
Abschließend plädierte Prof. Yildiz für eine transreligiöse Bildung, die traditionelle religiöse Grenzen überschreitet. Er forderte eine neue Anerkennungskultur, die die Vielfalt und Pluralität religiöser Erfahrungen als Ressource für Bildung und Gesellschaftsgestaltung begreift. Er betonte die Notwendigkeit, kontrapunktisch zu denken, d.h. polarisierende und trennende Klassifizierungen zu dekonstruieren und den Blick auf Verflechtungen, Überschneidungen und gemeinsame Geschichten zu richten.
Prof. Yildiz betonte, dass es wichtig sei, den methodologischen Nationalismus und Eurozentrismus zu überwinden und stattdessen einen methodologischen Kosmopolitismus anzunehmen. Er betonte die Entwicklung eines neuen Bewusstseins der Vielfalt, einer neuen Kultur der Anerkennung und einer neuen Kultur der Inklusion. Es brauche ein anderes Verständnis von Gesellschaft, ein anderes Verständnis von Normalität und ein anderes Verständnis von Bildung, das offen und sensibel für Veränderungen sei. Er postulierte, dass der Religionsunterricht eine Plattform bieten sollte, um die Schüler*innen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Differenzierungen und binären Kodierungen anzuleiten. Durch das Verstehen und die kritische Auseinandersetzung mit diesen Prozessen werde eine Grundlage geschaffen, auf der Lernende mediale Darstellungen kritisch hinterfragen, eigene Selbstverständlichkeiten und Normalitätsvorstellungen hinterfragen und eigenständige, begründete Meinungen entwickeln können.
Der Vortrag von Prof. Dr. Erol Yildiz gab wertvolle Einblicke in die komplexen Prozesse der Identitätsbildung in der digitalisierten Postmoderne. Er machte deutlich, wie wichtig es ist, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen und die Vielfalt von Lebensentwürfen anzuerkennen. Wir danken Prof. Yildiz herzlich für seinen profunden und inspirierenden Vortrag und allen Teilnehmenden für ihre engagierte Mitarbeit.